Irgendwann ist immer das erste Mal. So auch beim Thema Retrospektive. Da steht man nun, als frisch zertifizierter Scrum Master und muss zum ersten Mal eine Retrospektive vorbereiten und dann auch moderieren. Wo fängt man an? Was muss ich beachten? Welche Aktivitäten soll ich verwenden? Welches Material brauche ich? Das war auch einer der Gründe, warum ich diesem Thema ein ganzes Kapitel in meinem Buch "Retrospektiven in der Praxis" gewidmet habe. Der folgende Text stammt aus diesem Buch. Natürlich kannst Du Dir das hier auch anhören.
Damit Sie es bei Ihrer ersten Retrospektive einfacher haben als ich damals, will ich Sie Schritt für Schritt durch Ihre erste Retrospektive führen. Dazu habe ich ein paar Annahmen getroffen:
- Die Retrospektive dauert eine Stunde.
- Die Anzahl der Teilnehmer liegt bei 3 – 8.
- Es handelt sich um einen relativ kurzen Zeitraum, der in der Retrospektive bearbeitet werden soll (1 Woche bis maximal 4 Wochen).
- Im Raum, in dem Sie die Retrospektive durchführen wollen, steht ein Flipchart und/oder ein Whiteboard zur Verfügung.
Kleiner Hinweis: Das Buch stammt aus dem Jahr 2014, als das Thema "Remote" und "Hybrid" noch keine so große Rolle gespielt hat (auch wenn es dazu ebenfalls ein Kapitel im Buch gibt). Wenn die Retro also Remote stattfindet, sollte man auf jeden Fall ein Online-Whiteboard zur Verfügung haben (Miro, Mural, Conceptboard oder ähnliches).
Die Vorbereitung
Die folgende Materialliste listet alles auf, was Sie für Ihre erste Retrospektive brauchen:
- Ein Flipchart oder ein (Online) Whiteboard und die dazugehörigen Stifte
- Genug Stifte für jeden Teilnehmer (z.B. Kugelschreiber)
- 2 Blöcke Post-its
- Klebepunkte
- Gummibärchen
Bevor Sie die Einladung für die Retrospektive an Ihre Teilnehmer verschicken, müssen Sie die Agenda vorbereiten. Um Ihnen das Leben zu erleichtern, habe ich einen Vorschlag für die Agenda vorbereitet, den Sie verwenden können:
- 09.00 – 09.05 Den Boden bereiten: Autovergleich
- 09.05 – 09.20 Daten sammeln: Mad, Sad, Glad, Afraid
- 09.20 – 09.40 Einsichten gewinnen: Die 5 Warums
- 09.40 – 09.55 Nächste Experimente und Hypothesen
definieren: Brainstorming - 09.55 – 10.00 Abschluss: ROTI
Die Uhrzeiten sind natürlich nur ein Vorschlag und müssen entsprechend angepasst werden. Außerdem wird Ihnen aufgefallen sein, dass der Schritt „Hypothese überprüfen“ fehlt. Das liegt daran, weil ich davon ausgehe, dass Sie bisher entweder noch keine Retrospektive durchgeführt haben oder dass Sie in Ihren vorherigen Retrospektiven keine Hypothesen verwendet haben.
Wenn die Agenda steht, können Sie die Einladung vorbereiten und an Ihre Teilnehmer verschicken. Vergessen Sie nicht, den Raum zu reservieren, am besten schon 15 – 30 Minuten vor dem Beginn der Veranstaltung, damit Sie noch die Chance haben den Raum vorzubereiten.
Für den Tag der Retrospektive organisieren Sie etwas zu naschen. Da die Retrospektive nur eine Stunde geht, reicht eine Tüte Gummibärchen (siehe Materialliste). Bevor die eigentliche Retrospektive beginnt, betreten Sie den Raum und bereiten die letzten Dinge vor. Wenn möglich sollte man die Tische in einem Raum so aufstellen, dass eine Zusammenarbeit einfach möglich ist. Am liebsten arbeite ich mit „Tischinseln“, also zwei Tische zusammengestellt, oder mit einem guten alten Stuhlkreis.
Jeder Teilnehmer bekommt einen Stift zum Schreiben und ein paar Post-its. Einen Reserveblock Post-its hat man immer dabei. Die Tüte Gummibärchen kommen in die Mitte. Dann schreibt man die Agenda auf ein Flipchart und hängt sie sichtbar im Raum auf. So stellt man sicher, dass jeder die Agenda jederzeit sehen kann und dass man das Flipchart für die Retrospektive nutzen kann (falls man kein Whiteboard zur Verfügung hat).
Sollte man die einzelnen Aktivitäten noch nicht so genau kennen, kann man die verbleibenden Minuten dazu nutzen, sich alles noch einmal durchzulesen. Dann kann es losgehen.
Den Boden bereiten: Autovergleich
Wenn alle Teilnehmer anwesend sind, kann man mit der Retrospektive starten. Zuerst begrüßt man alle und erklärt in kurzen Worten die Agenda. Wenn es eine Teamcharta gibt, erinnert man noch einmal an die gemeinsam erarbeiteten Regeln für die Zusammenarbeit. Sollte es keine Teamcharta geben, überspringt man diesen Schritt. In einer einstündigen Retrospektive hat man nicht genug Zeit, um so etwas zu erarbeiten. In einem solchen Fall setzt man aber baldmöglichst einen dedizierten Workshop an, um die Teamcharta zu erstellen oder plant die nächste Retrospektive etwas länger, um dafür Platz zu lassen.
Danach bittet man die Teilnehmer, den Zeitraum vor der Retrospektive mit einem Auto zu vergleichen. Jeder soll in 2-3 Worten sagen, an welches Auto er erinnert wird, wenn er auf diesen Zeitraum zurückblickt. Am besten man gibt ein oder zwei Beispiele, wie das aussehen könnte, also z.B. wie ein alter rostiger VW Passat oder wie ein edler Lamborghini Murciélago. Dabei muss keine feste Reihenfolge eingehalten werden, aber man muss darauf achten, dass wirklich alle Teilnehmer zu Wort kommen. Wenn möglich lässt man die Gruppe selbst entscheiden, in welcher Reihenfolge sie antworten wollen. Kommentieren und werten Sie die einzelnen Antworten nicht. Alles, was gesagt wird, sollte wohlwollend aufgenommen werden.
Daten sammeln: Mad, Sad, Glad, Afraid
Leiten Sie ohne Pause direkt in die nächste Aktivität über: das Sammeln der Daten. Die Aktivität „Mad, Sad, Glad, Afraid“ ist recht selbsterklärend. Jeder Teilnehmer nutzt seine Post-its, um all die Dinge aufzuschreiben, die ihn im letzten Zeitraum entweder verrückt (engl. mad), traurig (engl. sad), erfreut (engl. glad) oder Angst (engl. afraid) gemacht haben. Während Sie das kurz erklären, zeichnen Sie ein großes Kreuz auf das Whiteboard oder Flipchart und benennen die entstandenen vier Bereiche dementsprechend.
Bevor Sie mit der Aktivität beginnen, fragen Sie, ob das alle verstanden haben, und beantworten eventuell aufkommende Fragen. Anschließend kann es losgehen. Pro Post-it wird immer nur eine Sache aufgeschrieben und das möglichst leserlich.
Die letzten 5 Minuten werden dazu verwendet, alle Post-its kurz vorzulesen und unklare Post-its von den jeweiligen Teilnehmern erklären zu lassen. Brechen Sie das Schreiben der Post-its also rechtzeitig ab. Während Sie durch die ganzen Post-its gehen, gruppieren Sie die thematisch zusammengehörenden. Meist ergibt sich so schon ein Bild, wo der Schuh derzeit am meisten drückt.
Jetzt haben Sie zwei Möglichkeiten, zusammen mit den Teilnehmern die Themen auszuwählen, mit denen Sie sich im weiteren Verlauf der Retrospektive beschäftigen möchten:
- Sie wählen die beiden Themen, die durch die Gruppierung der Post-its am größten sind.
- Sie verteilen Klebepunkte an die Teilnehmer und lassen wählen.
Wenn Sie sich für die Variante mit den Klebepunkten entscheiden, bekommt jeder Teilnehmer drei Klebepunkte, die er frei auf die verschiedenen Gruppen verteilen kann. Danach zählt man die Klebepunkte pro Gruppe und schreibt das Ergebnis neben die Gruppe. Die beiden Gruppen mit den meisten Klebepunkten sind die Themen für die weiteren Phasen der Retrospektive.
Einsichten gewinnen: 5 Warums
Bei der 5 Warum-Methode handelt es sich um eine Technik, die schon über 100 Jahre alt ist. Die Idee hinter dieser Technik ist, dass die meisten offensichtlichen Ursachen nur Symptome sind und das Grundproblem viel tiefer liegt. Die 5 Warum“-Fragetechnik soll dabei helfen zu diesem Grundproblem vorzustoßen, indem man die Frage „Warum“ mindestens fünf Mal wiederholt, bis man die eigentliche Ursache findet. Hier ein einfaches Beispiel. Nehmen wir an, Sie entwickeln Autos und haben das folgende Problem: Niemand kauft sie:
- Warum kauft niemand die Autos? Weil es die Autos bei keinem Händler gibt.
- Warum gibt es die Autos bei keinem Händler? Weil kein Händler die Autos verkaufen möchte.
- Warum will kein Händler die Autos verkaufen? Weil sie ein schlechtes Image bei potenziellen Käufern haben.
- Warum haben die Autos ein schlechtes Image bei den Käufern? Weil sie im letzten Crashtest überdurchschnittlich schlecht abgeschnitten haben.
- Warum haben die Autos so schlecht abgeschnitten? Weil das Thema Sicherheit bisher vernachlässigt wurde.
Das ist natürlich ein stark vereinfachtes Beispiel, aber es gibt Ihnen ein Gefühl, wie das Ganze abläuft. Nicht immer lässt sich nur eine Antwort auf die Frage finden, manchmal gibt es mehrere Ursachen, die wiederum selbst mehrere Ursachen haben können. Das ist völlig normal.
Teilen Sie die Teilnehmer in zwei Gruppen auf. Jede der Gruppen bearbeitet eines der Themen, die sie in der vorherigen Phase ausgewählt haben. Dazu verteilt man an jede Gruppe eine Seite Flipchartpapier, die sie dazu nutzen können, ihre Ergebnisse zu dokumentieren.Planen Sie ein, dass am Ende dieser Phase jede Gruppe ein bis zwei Minuten Zeit bekommt, um ihre Ergebnisse vorzustellen. Dafür geht ein Teilnehmer der jeweiligen Gruppe nach vorne, hängt sein Flipchartpapier auf und erklärt kurz das erarbeitete Ergebnis der Gruppe. Auch bei dieser Phase achtet man streng auf den festgelegten Zeitrahmen.
Nächste Experimente definieren: Brainstorming
Die meisten Teilnehmer kommen schon mit konkreten Verbesserungsideen in eine Retrospektive. Jeder hat so seine Ideen, wie man etwas besser machen könnte. Durch die vorherigen Phasen hat man dafür zusätzlich eine Basis geschaffen. Entweder ist man als Teilnehmer jetzt umso mehr davon überzeugt, dass die Idee funktioniert, oder man hat im Laufe der Retrospektive eingesehen, dass es vielleicht doch keine so gute Idee ist. Es kann aber auch sein, dass man feststellen musste, dass der Schuh gerade ganz woanders (stärker) drückt, und man hebt sich seine Idee für die nächste Retrospektive auf.
Beim Brainstorming gilt es genau das auszunutzen. Basierend auf den bisher erarbeiteten Ergebnissen hat jetzt jeder Teilnehmer fünf Minuten, um maximal drei Ideen und mögliche Experimente auf die Post-its zu schreiben, die aus seiner Sicht das höchste Potenzial haben. Wir begrenzen die Anzahl auf drei, weil man sonst Gefahr läuft, dass die Zeit nicht reicht. Auch hier gilt: ein Experiment pro Post-it. Die Post-its werden dann auf eine freie Fläche im Raum geklebt. Wenn die fünf Minuten vorbei sind, geht jeder Teilnehmer nach vorne und erklärt in kurzen Worten seine Idee(n) und was die Idee seiner Meinung nach bewirken wird, also seine Hypothese. Die Teilnehmer sollten gleich versuchen, die Ideen zu gruppieren, wenn sie die Post-its aufhängen. Vermeiden Sie Diskussionen zu diesem Zeitpunkt, da man immer noch im Brainstorming-Modus ist und Ideen noch nicht bewertet werden. Jetzt bekommen wieder alle Teilnehmer drei Klebepunkte, um die Idee zu wählen, die das größte Potenzial hat, ein Erfolg zu werden.
Einigen Sie sich auf genau eine(!) Idee. Das mag im ersten Moment komisch erscheinen, da alle hochmotiviert sind, noch mehr umzusetzen. Wenn Sie aber sichergehen wollen, dass wenigsten an einem Thema gearbeitet wird, dann ist das unerlässlich. Sie wollen schließlich, dass es nach der ersten Retrospektive zu einem Erfolgserlebnis kommt. Machen Sie den Teilnehmern klar, dass es sich bei der gewählten Idee im Grunde um nichts anderes als ein Experiment handelt. Man hat zwar eine Meinung, was die Idee bewirken könnte, sicher wissen kann es aber niemand. Deshalb ist es jetzt noch wichtig, die Hypothese zu der gewählten Idee hinzuzufügen. Achten Sie darauf, dass diese überprüfbar ist, ansonsten wäre die Hypothese wertlos. So schaffen Sie die Basis für die nächste Retrospektive, bei der Sie die kommenden, potenziellen Veränderungen mit der Hypothese vergleichen können.
Jetzt müssen Sie nur noch einen Verantwortlichen für das Experiment definieren und festlegen bis wann das Ganze umgesetzt werden soll. Der Verantwortliche muss das Experiment nicht zwingend allein umsetzen. Vielmehr ist er dafür verantwortlich, dass das Experiment auch tatsächlich durchgeführt wird.
Abschluss: ROTI
Langsam kommt man zum Ende der ersten Retrospektive. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, um allen Teilnehmern für ihre Mitarbeit zu danken. Erklären Sie den Teilnehmern, was mit den erarbeiteten Ergebnissen geschehen wird:
- Sie machen Bilder von allen Arbeitsergebnissen und verteilen diese an die Teilnehmer. Wie Sie das machen, bleibt Ihnen überlassen. Sie können sie z.B. im Wiki zur Verfügung stellen.
- Die Ideen, die nicht gewählt wurden, kommen in ein sogenanntes Verbesserungsbacklog. Alle Ergebnisse haben einen Wert und sollten nicht einfach weggeworfen werden. Am besten hängt man auch sie im Teamraum auf.
Danach teilen Sie den Teilnehmern mit, wann die nächste Retrospektive stattfinden wird und dass sie dort gemeinsam die aufgestellte Hypothese überprüfen werden. Jetzt fehlt nur noch die Retrospektive der Retrospektive. Dazu kann man z.B. eine "Feedback Tür" nutzen.
Gratulation, Sie sind am Ende Ihrer ersten Retrospektive angelangt. Jetzt haben Sie den Grundstein für viele weitere, erfolgreiche Retrospektiven gelegt. In den nächsten Kapiteln werden wir Ihr Wissen weiter vertiefen.